Hintergrund und Fragestellung

Während von 1996 an im § 20 des Beitragsentlastungsgesetzes die Gesundheitsförderung keine Pflichtleistung der Krankenkassen (KK) darstellte, änderte sich dies im Juni 2000 durch das Gesundheitsreformgesetz der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dieses beinhaltete eine Neufassung des § 20 SGB V: Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) stellen wieder Kann-Leistungen, Primärpräventionsmaßnahmen Soll-Leistungen der KK dar. Ab diesem Zeitpunkt reklamiert der Spitzenverband der KK in dessen „Leitfaden Prävention“ einen deutlichen Ausbau des Angebotsspektrums für BGF [16]. Dies markiert den Startpunkt dieser Untersuchung.

Der strukturelle Aufbau und auch die Relation von BGF zu betrieblichem Gesundheitsmanagement (BGM) ist in Deutschland geregelt. BGF ist ein eigenständiges Handlungsfeld und zugleich in BGM eingebettet. Während BGF die Bereitstellung von Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit von Beschäftigten adressiert, umfasst BGM die Organisation und Umsetzung von in Unternehmen integrierten Prozessen, sodass im Ergebnis sowohl die Beschäftigten als auch die Unternehmen profitieren [26]. Die Begriffe BGF und BGM werden in der Literatur und in der organisationalen Praxis nicht trennscharf verwendet [14, 44].

Nach über zwei Jahrzehnten BGF gilt es, als Grundlage zur Qualitätssicherung bzw. für die Weiterentwicklung von BGF-Maßnahmen, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, indem der Blick auf wissenschaftlich begleitete Maßnahmen und Programme gerichtet wird. An erster Stelle geht es darum, einen Überblick zu erhalten, welche Themenfelder wie stark untersucht wurden. Außerdem wird analysiert und beschrieben, ob ein Themenwechsel stattgefunden hat und inwieweit sich der Fokus der BGF-Maßnahmen mit der Zeit verändert hat.

Methodik

Die Recherche fand vom 23.03.2021 bis 31.03.2021 in den zwei elektronischen Datenbanken Scopus und Web of Science in den Feldern Titel, Abstract und Keywords statt. Die genauen Suchstrings sind im Online-Material 1 verzeichnet. Die Recherche fand neben englischer auch in deutscher Sprache statt.

Die generierten Treffer wurden in mehreren Auswahlschritten von zwei Prüfern unabhängig voneinander auf ihre Eignung geprüft. Die Einschlusskriterien setzen sich wie in Tab. 1 dargestellt zusammen. Es wurden ausschließlich evaluierte Interventionen berücksichtigt. Die finalen Studien sind in Online-Material 2 aufgelistet.

Tab. 1 Einschlusskriterien der systematischen Literaturrecherche

Selektion und Ergebnisse

Von 335 generierten Publikationen hielten 294 Studien den Einschlusskriterien nicht stand, sodass 41 Studien in das Review einflossen. Abb. 1 zeigt den gesamten Suchprozess in Form eines Flussdiagramms [33]. Der Hauptgrund für den Ausschluss von Artikeln war, dass der Inhalt der Abstracts nicht dem Forschungsfeld der Einschlusskriterien entsprach.

Abb. 1
figure 1

PRISMA-Flussdiagramm (Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses) zur systematischen Literaturrecherche. (Eigene Darstellung nach Moher et al. [33])

Die Publikationsjahre reichen von 2003 [7] bis 2020 [18, 24, 27, 29, 42, 45]. Abb. 2 zeigt die Häufigkeit der in das Review eingegangenen, veröffentlichten Studien je Publikationsjahr. Für die Jahre 2000–2002 konnten keine Studien gefunden werden, die den Einschlusskriterien standhalten. In den ersten 10 Jahren des Untersuchungszeitraums wurden 8 Publikationen veröffentlicht. In der zweiten Dekade gab es 33 Veröffentlichungen. Abb. 2 zeigt diesen Anstieg.

Abb. 2
figure 2

Anzahl der in das Review eingegangenen Publikationen je Publikationsjahr

Hervorzuheben ist, dass die Durchführungsjahre dem Publikationsjahr häufig um ca. 5 Jahre vorgelagert sind. Der längste Interventionszeitraum erstreckt sich über 4 Jahre für jährlich stattfindende medizinische Screenings, die darauf abzielen mithilfe von Ernährungsberatung und körperlicher Aktivität die Lebensqualität zu verbessern [5]. Der kürzeste Interventionszeitraum beläuft sich auf einmalig 20 min für ein Screening des Bewegungsapparats inklusive eines Fragebogens, um anhand dessen verhältnis- und verhaltensbezogene Maßnahmen abzuleiten und durchzuführen [35].

Zahlreiche der untersuchten Studien sind Gesundheitsförderungsprogramme (n = 36 Studien). Sie enthalten Kombinationen aus u. a. Bildungsmodulen, Ermittlungen des Gesundheitszustands, persönlichen Beratungen und Gruppensitzungen. In 5 Studien wird eine Maßnahme in einer einzelnen Durchführungsform (Format) untersucht (s. Online-Material 2, markiert als „Einzelne Maßnahme“).

Die Arbeit zieht die Themenfelder des GKV-Spitzenverbandes aus dem Leitfaden Prävention heran, um die in den Studien adressierten Inhalte diesen zuzuordnen:

  • Arbeitsgestaltung (in verschiedener Ausführung, z. B. Arbeitsumgebung oder Arbeitsorganisation),

  • Führung,

  • Stressbewältigung und Ressourcenstärkung,

  • Bewegung,

  • Ernährung,

  • Suchtprävention,

  • Verbreitung und Implementierung von BGF durch überbetriebliche Netzwerke.

Die Abb. 3 zeigt eine detaillierte Übersicht der Verteilung der in den Studien behandelten Themenfelder. Hierfür wurden die über die Maßnahmen adressierten Themenfelder je Durchführungsjahr kumuliert. Das Themenfeld „Verbreitung und Implementierung von BGF durch überbetriebliche Netzwerke“ wurde in keiner der Studien untersucht.

Abb. 3
figure 3

Darstellung der Häufigkeiten der Zuordnungen zu den sieben Themenfeldern

Das Themenfeld Arbeitsgestaltung wird im „Leitfaden Prävention“ weiter differenziert in die Bereiche der Arbeitsorganisation und der Arbeitsumgebung. Für die Arbeitsorganisation konnten vier Maßnahmen ausgemacht werden [18, 27, 39, 46], im Bereich der Arbeitsumgebung konnten ebenfalls vier Maßnahmen zugeordnet werden [8, 23, 27, 46].

Dem Themenfeld Führung können drei Studien zugeordnet werden [18, 21, 37]. Die Maßnahmen sind so angelegt, dass die Führungskräfte Unterstützung erfahren, um rollenkonform als Vorbild zu agieren.

Dem Themenfeld Stressbewältigung und Ressourcenstärkung können insgesamt Maßnahmen aus 15 Studien zugeordnet werden [3, 10,11,12,13, 18, 22, 29, 31, 32, 37, 42, 43, 45, 46]. In den Maßnahmen kommen Workshops, (interaktive) Online-Programme oder Schulungen zu Stressmanagement, Achtsamkeit und Resilienz zum Einsatz. Die Studie von Deforche et al. [12] ist die einzige, die ausschließlich das Thema Stressbewältigung und Ressourcenstärkung als Schwerpunkt hat.

Dem Themenfeld Bewegung können Maßnahmen aus den Publikationen am häufigsten zugeordnet werden (Abb. 3; [2, 5,6,7,8,9, 11, 13, 19, 21,22,23, 28,29,30,31, 36, 38, 39, 42, 43, 45,46,47]). Die Studie von Wollesen et al. [46] ist die einzige, die spezifisch die Ergonomie fokussiert. Die Studien um die Forscher Grande et al. [19], Lee et al. [28], Pressler et al. [36] und Wu et al. [47] sind die einzigen, die als Maßnahmenthema ausschließlich körperliche Bewegung fokussieren.

Dem Themenfeld Ernährung werden Maßnahmen wie Ernährungsberatung, Befragungen oder auch Schulungen zu ernährungsbezogenen Themen zugeordnet. Insgesamt werden 28 Studien gezählt [1,2,3, 5,6,7,8,9,10,11, 13, 15, 20,21,22,23, 30,31,32, 34, 37, 38, 40,41,42,43, 45, 46].

Das Themenfeld Suchtprävention adressiert Rauchen und Alkoholkonsum [5, 7, 8, 11, 20,21,22,23, 25, 31, 32, 37, 38, 40]. In all diesen Studien wird Rauchen und in zwei Studien wird zusätzlich das Thema Alkohol thematisiert [38, 40]. Die Studie von Hwang et al. [25] ist die einzige, die ausschließlich Rauchen und kein weiteres Themenfeld fokussiert. Die häufigsten Maßnahmen sind Raucherentwöhnungsprogramme in Form von Schulungen, Kursen, computergestützten Programmen und Beratungen [5, 7, 8, 11, 20,21,22,23, 25, 31, 32].

In 11 der 41 Studien wurden verhältnispräventive Angebote untersucht. Diese Studien sind im Online-Material 2 mit einem Sternchen (*) gekennzeichnet. Die Studien sind alle auf Kombinationen aus verhältnis- und verhaltenspräventiven Maßnahmen ausgerichtet. Eine verhältnispräventive Unterstützung der Führungskräfte findet in 2 Studien statt [21, 37]. In fünf weiteren BGF-Maßnahmen werden für gesundheitsfördernde Bewegung und Ernährung die Verhältnisse präventiv verändert [1, 23, 27, 30, 43]. Die Arbeitsgestaltung wird in Maßnahmen aus 6 Studien adressiert [8, 18, 23, 27, 39, 46]. Hier werden entweder die Arbeitsumgebung oder konkrete Arbeitsorganisationsabläufe verändert.

Bei der Zuordnung der Maßnahmen konnten manche Interventionen inhaltlich nicht eindeutig einem der sieben bestehenden Themenfelder aus dem GKV-Leitfaden Prävention [16] zugeordnet werden. Diese sind im Online-Material 2 als solche mit dem Zusatz „Nicht eindeutig zuordenbar“ gekennzeichnet.

Eine Auffälligkeit in der Ergebnisanalyse der 41 Studien stellt die Genauigkeit der Angaben zu den durchgeführten Maßnahmen dar. Teilweise werden nur Teile der Interventionen beschrieben, die konkrete Durchführung aber nicht erläutert oder die konkreten Inhalte von abgehaltenen Schulungen nicht benannt [7, 8, 21, 22, 41].

Themenwechsel im Verlauf der Zeit

Die Abb. 4 zeigt dem jeweiligen Jahr zugewiesen die Themenfelder der wissenschaftlich begleiteten BGF-Maßnahmen und Programme der untersuchten Studien.

Abb. 4
figure 4

Untersuchte Themenfelder und deren Häufigkeiten in den Jahren 2000–2020 (Das Themenfeld „Verbreitung und Implementierung von BGF durch überbetriebliche Netzwerke“ wird aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht dargestellt, da ihm keine Maßnahmen aus den Review-Studien zugeordnet werden konnten.)

Keines der Themenfelder wurde im Untersuchungszeitraum von 2000 bis 2020 durchgehend untersucht. Bis 2007 steigt die Anzahl an untersuchten Maßnahmen (s. Zahlen je Themenfeld). Ab 2008 ist ein Rückgang zu verzeichnen, der durch die Weltwirtschaftskrise hervorgerufen sein kann. Erst 2015 ist wieder eine Zunahme an wissenschaftlich untersuchten Maßnahmen im Rahmen von Studien zu verzeichnen. Am häufigsten wurden Maßnahmen zur Ernährung und Bewegung untersucht. Maßnahmen zu Führung wurden am wenigsten untersucht. Für die Arbeitsgestaltung (Arbeitsumgebung und Arbeitsorganisation) können zwei Peaks für die Jahre 2008–2009 und 2017–2018 festgestellt werden. Suchtprävention, Ernährung, Bewegung und Stressprävention sind in den Jahren 2003 bis 2008 stark vertreten. In diesen Themenfeldern ist der oben beschriebene generelle Rückgang an untersuchten Maßnahmen am deutlichsten auszumachen. Von 2003–2008 dominieren die Themenfelder Suchtprävention, Ernährung und Bewegung gegenüber Stressbewältigung, Arbeitsgestaltung und Führung. In den Jahren 2015–2017 verlagert sich der Schwerpunkt und Stressbewältigung wird häufiger bzw. gleich häufig wie das Themenfeld Ernährung untersucht. Keines der Themenfelder kam in der zweiten Dekade des Untersuchungszeitraums neu hinzu und keines fällt gegen Ende des Untersuchungszeitraumes weg.

Diskussion

Die deutlich höhere Anzahl an Veröffentlichungen (Abb. 2) von wissenschaftlich evaluierten BGF-Maßnahmen im Zeitraum von 2010–2020 lässt sich als Trend für ein wachsendes Interesse der Wissenschaft an dem Forschungsfeld der BGF ableiten. Trotzdem ist die Menge der in diesem Literatur-Review untersuchten Publikationen (n = 41) gering. Es sind mehr wissenschaftlich fundierte Evaluationen von BGF-Maßnahmen in allen Themenfeldern notwendig, um die Qualität von BGF-Maßnahmen sicherstellen zu können und somit für die organisationale Praxis (Unternehmen und Beschäftigte) attraktive, wirksame und kosteneffiziente Maßnahmen ableiten zu können.

Darüber hinaus fällt auf, dass die Maßnahmen in den Publikationen häufig nur rudimentär beschrieben werden. Es fehlen z. B. für die Nachvollziehbarkeit und Übertragung in den Praxisalltag Angaben zu Didaktik und Methodik. Empfehlenswert ist, dass jede Studie Angaben zu Parametern wie behandelten Themenfeldern, Teilnehmendenrekrutierung, Maßnahmendauer, verwendetem Format oder angewendetem Intervall macht. So werden Nachvollziehbarkeit und Vergleichbarkeit sichergestellt.

Die Verhältnisprävention stellt neben der Verhaltensprävention einen elementaren Baustein in verhaltensändernden Gesundheitsförderungsmaßnahmen dar. In knapp drei Viertel der Studien (n = 30) wird ausschließlich das Verhalten der Teilnehmenden angesprochen. Verhältnispräventive Maßnahmen wurden in 11 Studien gefunden. Laut der vom GKV-Spitzenverband unterstützen BGF-Maßnahmen stellt sich in der Praxis in Deutschland ein anderes Bild dar; hier bestehen über die Hälfte der Maßnahmen aus einer Kombination aus Verhaltens- und Verhältnisprävention. 5 % aller geförderten Maßnahmen adressieren ausschließlich die Verhältnisprävention [17]. Ursache dafür kann sein, dass das Thema eher in Verbindung mit Organisationsentwicklung publiziert wird als im Kontext der Gesundheitsförderung. Generell ist die Veränderung der Verhältnisse oft mit u. a. höheren Kosten für das Unternehmen verbunden, was dazu führt, dass einzelne verhaltenspräventive BGF-Maßnahmen bevorzugt werden.

Limitationen und Forschungsperspektiven

Methodische Limitationen entstanden durch die Datenbanken und die verwendeten Suchbegriffe sowie die zugrunde gelegten Einschlusskriterien. Zudem wurde nur in deutscher und englischer Sprache gesucht. Die methodische Qualität der einzelnen Studien wurde nicht betrachtet. Weiteres Forschungspotenzial besteht in Bezug auf inhaltliche Ausgestaltungen von BGF-Maßnahmen. Dieser Aspekt beinhaltet wichtige Erkenntnisse für die Praxis.

In einer zweiten Untersuchung, die in Bearbeitung ist, wird betrachtet, ob den untersuchten Präventionsstudien, wie von Badura [4] und dem GKV-Spitzenverband [16] angeregt, eine Ist-Analyse der Gesundheitssituation vorgeschaltet wurde, welche wissenschaftlichen Theorien den Maßnahmen zugrunde liegen und welche Wirksamkeit erreicht wurde.

Fazit für die Praxis

  • Die wissenschaftlich begleiteten BGF-Maßnahmen (betriebliche Gesundheitsförderung) zwischen 2000–2020 sind geprägt von Heterogenität.

  • Maßnahmen der Verhaltensprävention sind in der Forschungswelt dominant.

  • Insgesamt ist die Aussagekraft und Übertragbarkeit der Ergebnisse für praxisbezogene Interessen begrenzt.

  • Für die Zukunft ist eine stärkere Verzahnung und Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis sowohl wünschenswert als auch notwendig. Die Ergebnisse dieses Literatur-Reviews liefern hierfür Anregungen.